Kommt mit bis ans Ende der Mainstreet
• Ich war spät dran, hatte Cornelia verpasst. Doch die Traffic Cones hatten mir den Weg gewiesen. Heute trugen die Pylone Schwarz. „Funeral“ stand auf den weißen Bauchbinden der schlanken Kegel am Fahrbahnrand. Die Mainstreet war dicht, als ich ankam, zugeparkt an beiden Seiten. Ein Bierlaster zwängte sich in zweiter Reihe an den linken Straßenrand. Viele Geschäfte hatten nach altem Brauch die Türen geschlossen und das Licht ausgeschaltet. Auf den Bürgersteigen drängten sich die Menschen und erwarteten in flüsterndem Spalier den Trauerzug, der soeben langsam in die Hauptstraße einbog.
Voran, mit üppigem Blumenbukett geschmückt, fuhr der Leichenwagen, von Tom the Last Taximan schreiend schwarz auf Hochglanz poliert. An normalen Tagen fährt er – selbst spät in der Nacht noch – die letzten Pubbesucher nach Hause, wenngleich dann natürlich in seinem kleinen neunsitzigen Bus. Denn seit die Promillegrenze auf Nullkommafünf gesenkt wurde, bleiben die Autos nach einem schönen Abend dann doch stehen, die meisten jedenfalls. Und wer keinen Abholer hat, ist dankbar, wenn sich bei Tom eine letzte Fahrgelegenheit findet – im Sammeltaxi der späten Nacht, versteht sich. Die Tagesfahrten sind weniger begehrt. Doch derart hat Tom ein lukratives Zubrot gefunden.
Gleich hinter dem Wagen schritt in wehendem Talar Father Ted, der Pfarrer der Parish Kincasslagh and Burtonport in der Diözese Raphoe. Vertretungsweise, weil Very Referend O´Daniel – das wusste jeder hier – nach Rom beordert worden war. Weithin vernehmlich hob der Priester zum Gebet an: „Our Father, Thou art in heaven...“ Hinter ihm setzte verhalten das Murmeln der Trauergemeinde ein: „...hallowed be Thy name...“ Beidseits des Priesters stimmten zwei blasswangige Ministranten ein, die langstielige Leuchten vor sich hertrugen: „...Thy kingdom come...“, murmelten sie ein wenig schlaftrunken noch. „...Thy will be done...“, raunte es aus der Menge am Straßenrand zurück.
Hin und wieder musterten die beiden Jungs besorgt die flackernden Kerzen in ihrem Glas, scheinbar im Zweifel, ob sie vor den zunehmend heftiger werdenden Böen hinreichend geschützt seien: „...and forgive us our trespasses...“. Doch sie hielten durch. Zeichen der Erleuchtung – und wahrhaftig Zeichen der Hoffnung, dass es trocken bleiben möge, God willing. Denn der Wind hatte zugenommen und den Nieselregen des frühen Morgens weggeblasen. Hier und da war in flüchtigen Wolkenlöchern über der Bay sogar ein Stück blauer Himmel zu sehen. Zeichen der Verheißung auf einen schönen Tag. „Oft im Leben kommt es besser, als man anfangs denkt“, pflegte Maggie zu sagen. Warum sollte das im Tode anders sein?
Langsam nahm der Tross die leichte Steigung der Hauptstraße. Schritt um Schritt. Gedankenverloren und versonnen vor die eigenen Füße starrend, hatte die Trauergemeinde die Hälfte der Straße bereits durchquert. Schnäuzen, Tränen und zuweilen ein Schluchzen unter den schwarz gekleideten Frauen. Schniefende Nasen, Räuspern und selbstvergessene Augen aus den hochgeschlagenen Krägen der dunkel gekleideten Männer. Verbissene Münder. Gepresste Lippen. Neugierige Blicke von Kindern, die tapfer ausschritten – von festen Fäusten mitgeschleift – oder vorwitzig aus Kinderwagen lugten und aufhorchten: Die Totenglocke der fernen Kirche setzte ein. Ihr tragisch, traurig tiefer Ton. Ein durchdringend mahnend klagender Klang. Schier endlos die Pausen zwischen den Schlägen. Ein weithin hallendes Memento mori. Unüberhörbar ihr Last Farewell.
Gemurmel auf den Bürgersteigen, stille Kreuzzeichen von hastigen Händen, als der Sarg vorübergefahren kam, als der Leichenwagen am Ende der Hauptstraße abbog – gleich links am alten Friedhof – und als der Trauerzug abrupt zum Stillstand kam: vor der geschwellten Brust einer mächtigen Statur in gelber Weste, vor Sean the Guard. Der groß gewachsene Polizist der kleinen Stadt stand in seiner blauen Uniform mitten auf der Fahrbahn, tippte kurz an die Schirmmütze, als der Wagen um die Ecke bog, und blockte mit seinem breiten Kreuz den aufgestauten Durchgangsverkehr in die obere Mainstreet.
Gleich gegenüber dem altem Kirchhof von Ionad Tempaill Chróine stand er – mitten in der Kreuzung – und weinte, direkt zu Füßen der Church of Ireland links und eingangs von Patrick Johnnie Sally´s Pub rechts, den die ersten Ankömmlinge jetzt betraten. Diese Nacht schon waren die Tische für den Leichenschmauß gedeckt worden, bis in den letzten Winkel des langgestreckten Gemäuers, bis zum großen Fenster an seinem äußersten hinteren Ende, mit jener großartigen Aussicht auf die von Maggie so geliebte Dungloe Bay, die im Licht der nun vollends durchgebrochenen Sonne silbern erstrahlte. Wie ein letzter Gruß.
Maggie hatte sich Hilfe ausbedungen. Das erste Mal, seit Nelly sie kannte. Sie war schon lange krank. Doch nun spürte sie ihr Ende. Ihre Kräfte schwanden. Unter ihrem Bett stand schon eine ganze Weile der schlichte Weidenkorb, der ihr Sarg werden würde. Seit Wochen schlief sie über ihm. Sie hatte ihn im letzten Herbst „auf einer dieser Sterbemessen“, einer Bestattungsfachausstellung in Letterkenny gesehen, bestellt und mit Messerabatt erworben. Selbst die Anlieferung war im Preis inbegriffen: „Man kann ihn ja schlecht mit nach Hause nehmen oder mit so einem Ding im Gepäck in den Local Link steigen“. Schließlich hatte sie wie immer den kleinen Bus genommen, der zweimal täglich die Abgeschiedenheit der Region mit einer rumpeligen Verbindung zur modernen Welt zu versöhnen sucht.
Maggie wollte aufräumen, bevor sie gehen musste, das Gekrame aber nicht mit der Familie teilen. Darum hatte sie Nelly gebeten, ihr diskret zu helfen. Es war nicht leicht, ihr alles recht zu machen. „Wohin nur mit den alten Plumeaus? In den Weidenkorb vielleicht?“ „Um Gottes willen, doch nicht in meinen schönen Sarg! Der ist mit alten Leinentüchern ausgeschlagen.“ Es war gutes, altes, steifes Linnen, wie es über Generationen hier im irischen Norden in Heimarbeit oder in den kleinen Manufakturen gewebt worden war. In der Weaver Street an Maghary Beach etwa, wo einst die Tuchweber und Flachsspinner saßen. Irisches Leinen war weit über die Insel hinaus bekannt, wurde in Derry und Belfast nach England verkauft, als Segeltuch, Tischdecken, Betttücher – und als Leichentuch. Schon der Heilige Patrick hatte in irischem Leinen beigesetzt werden wollen, so heißt es.
„Und wer soll das alte Porzellan bekommen?“ Handbemalte Teller und Platten in Delfter Blau, die seit Jahrzehnten in kalter Pracht auf dem Sims standen und die ihre Großmutter ihr mit in die Aussteuer gegeben hatte. „Tja, wer bloß?“ Es gibt so viel zu überlegen und zu klären, zu teilen und zu tun, bevor man geht. Das ganze Haus hatte auf Maggies Wunsch frisch gestrichen werden müssen, als Vorbereitung für die anstehende Wake, die traditionelle Totenwache, damit alles adrett und sauber war, wenn es soweit wäre und die Trauergäste kämen. Mehrmals hatte Maggie die Farben moniert. Einige mussten überstrichen werden: hier lieber Gelb statt Weiß, dort Rot statt Braun. Es sollte alles hell und fröhlich sein im Haus, wenn sie dort aufgebahrt würde und die Kondolenzgäste – so wie es Brauch ist – am offenen Sarg ein letztes kurzes Gebet für sie sprächen.
Sodann hatte sie alle aus der Familie ein letztes Mal eingeladen, um Abschied zu nehmen. An einem weiteren Abend waren alle Nachbarn und guten Bekannten geladen, vor allem die ausländischen Freunde aus Schottland und Frankreich und Deutschland, die sich in The Rosses niedergelassen hatten. „Wie? Ihr könnt um diese Zeit nicht?! Was, denn? Euer Freund kommt an dem Abend aus Dublin? Ja, dann müsst ihr das verschieben! Oder er muss das anders regeln! Ich sterbe schließlich nur einmal!“ Und so hatten Gerhard und Cornelia, die hier seit je und immer nur Gearard und Nelly hießen, verlegen genickt und schnell zugesagt: „Sie hatte ja recht!“ Sie waren zur angesetzten Zeit gekommen und – wie übrigens alle diesmal – recht pünktlich erschienen, was selten ist. Mir hatten sie damals Tom zum Flughafen geschickt, weil wenig später, so ziemlich genau gegen acht, die kleine zweimotorige Nachtmaschine aus Dublin auf Carrick Finn Airport landet.
Maggie nahm derweil Abschied an jenem Abend, bei Musik und Tanz und Gesang. Einige hatten ihre Instrumente dabei – und Whiskey und Ale und schwarzes Stout. Ihr Nachbar Sean, in seiner dunklen Tweedjacke und ohne Uniform und Schirmmütze ganz ungewöhnlich anzusehen, hatte seine Fiddle, ein Blümchen und ihren Lieblingswein mitgebracht: einen Müller-Thurgau. Doch sie nippte nur einmal kurz daran, bevor sie ihr letztes Vermächtnis an die versammelten Freunde verkündete: „Wenn der Trauerzug die Mainstreet hoch zieht, dann biegt ihr an Tempaill Cróine – an der Ecke zum alten Friedhof – rechts ab und ich links. Ihr nach Patrick Johnnie Sally´s Pub gegenüber der alten Kirche! Und ihr feiert und trinkt und denkt an mich. Und ich biege links ab nach Dublin.“
Ja, Maggie hatte alles arrangiert. Denn in ganz Donegal gibt es kein Krematorium. Man muss sich schon mit Tom in die Hauptstadt aufmachen, will man ordentlich verbrannt werden. So jedenfalls hat es mir Nelly erzählt und sie muss es wissen, denn sie war dabei gewesen. Maggies letzter Wunsch war ein tröstlicher Auftrag an alle, ein Last Farewell an ein gutes Leben in einer tragenden Gemeinschaft. Und der Tod gehört nun einmal mit dazu. So sollte es für alle ein schöner Tag werden, auch wenn viel geweint wurde.
»In Irland sind diese Welt und die, dahin wir nach dem Tode gehen, nicht weit auseinander [...] Tatsächlich gibt es Zeiten, wo diese Welten einander so nahe sind, dass es scheint, als sei unser irdisches Hab und Gut nichts anderes, als der Schatten der jenseitigen Dinge [...] Hin und wieder aber wird ein Gutsherr, ein Anwalt oder ein Steuerbeamter vorbeigehen und um einen Bissen Brot betteln, auf dass offenbar werde, wie Gott den Gerechten vom Sünder scheidet.«
William Butler Yeats
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