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AutorenbildHeinz Bück

Inis Meáin, die Schöne


Die Uferpromenade im amphibischen Karstland

• Wir waren die Einzigen, die auf Inis Meáin ausstiegen. Der Bootsmann fragte noch, ob wir wirklich hier raus wollten: als seien wir am Ende der Welt und nicht an einem seiner schönsten Ränder. Rein sicherheitshalber frage er das, nur damit wir nicht falsch landen. Als wir bejahten, war er zufrieden, wollte noch wissen, wann und wohin wir weiterfahren wollten – „Morgen Mittag, nach Inis Mór“ – holte die Gangway ein – „Okay!“ – und winkte.



Die kleine Fähre legte ab und wir standen alleine auf dem kahlen Pier, weit und breit mutterseelenallein. Die grauen arantypischen Mauern und Einfriedungen zeichneten das spröde Land auch hier und in der Ferne auf dem zentral gelegenen Hügel blickte erneut ein Ringfort auf uns herab. Wir gingen die Straße entlang bis zu einer verglasten Bushaltestelle, die mit einer großen Karte der kleinen Insel aufwartete. Wir waren noch dabei, sie zu studieren, als ein Taxi-Van neben uns hielt: „Nein, einen Campingplatz gebe es hier nicht“, sagte der Fahrer, aber er könne uns gerne ein B&B vermitteln. Nach einem sehr kurzen Telefonat und einer ebenso kurzen Fahrt hügelaufwärts wurden wir vor einem gelb gestrichenen, modernen Wohnhaus abgesetzt: „An Dún“. Unser Quartier lag gleich gegenüber dem Ringfort Dún Chonchúir – auf Englisch „Doonconor“.

Wir bekamen einen Tee an der Rezeption, während unser Zimmer fertig gemacht wurde „Die Insel ist klein, aber wunderschön“, erklärte unsere Wirtin Teresa Faherty, „auch wenn es so viele Attraktionen nicht gibt.“ Die Sonne brach aus den Wolken hervor. Ob wir vielleicht zur Küste wollten? „Sehr gerne!“ Nach einigen Erklärungen waren wir unterwegs, versorgt mit Teresas verblasster Fotokopie, die in wenigen dünnen Strichen die Geografie dieses Eilands skizziert. Isohypsen kannte die Karte nicht, warum auch. Mittig ein Kreis, der höchste Punkt – das Fort in exponierter Lage – 56 Meter über Null, Tendenz: mit steigendem Meeresspiegel fallend. Dort brachen wir auf.

Machtvoll thront das prächtige Ringfort Dún Chonchúir über dem Eiland, in Sichtweite die Bruderforts auf Inis Oírr und Inis Mór. Die Aussicht ist überwältigend: landwärts die geschlossene Galway Bay und seewärts der weite Atlantik. Es zog uns euphorisch hinab ans Meer. Wir hielten uns nordwärts und folgten zwischen grauen Trockenmauern dem schmalen Fahrweg zum Ufer. Er verlor sich auf der meeresnahen Felsenkante. Je weiter wir kamen, umso einsamer und prächtiger wurde die Küste. Die letzten Häuser blieben weit zurück. Lang reckte sich das hohe Karstplateau in Richtung Westen, menschenleer unter einem wolkenlosen blauen Himmel.

Teresa hatte noch erzählt, dass vor einem Jahr ein amerikanisches Journalistenduo hier aufmarschiert sei und schnellstens wieder von dannen zog, völlig entsetzt über die Einsamkeit der Insel. „Wir wünschten, niemals hierhin gekommen zu sein“, lautete das Resümee ihres Magazinbeitrags. Ihnen fehlte jede, aber auch jede Gelegenheit zu Shopping oder Wellness. „Sie vermissten Bars und schicke Läden, Restaurants und stylische Pubs, ja überhaupt jedwede Infrastruktur“, lachte Teresa schelmisch. Wir sollten also nicht enttäuscht sein. Unfassbar.


Nein, wir wurden nicht enttäuscht, das kleine Volk beschenkte uns. Erdgeister führten uns an jenem Nachmittag auf eine stattliche Promenade am maritimen Rand des Burren, hinaus an die Schwelle von Land und Meer, wo man den Zauber der Anderswelt erahnt. Wir betraten ihren amphibischen Vorort, streiften durch üppige Grünanlagen aus feucht glänzenden Algen und nassem Tang und gelangten an eine hohe Steilküste. Wir flanierten auf einem prächtigen Boulevard aus Calciumcarbonat und jungem Muschelkalk. Wieso bloß hatten die Amerikaner diese Uferpromenade nicht gefunden?

Hoch über uns lachten die Möwen. Unsere Prachtstraße strebte westwärts und mündete in eine weitläufige Passage. Wir studierten neugierig die Auslagen in Tümpeln und Becken. Es gab Krebse und kleine Schnecken und Treibholz in Klammen und Spalten. Wir konnten einfach kein Ende finden in diesem wundervollen Tagtraum, im strahlenden Glanz des Sonnenlichts, im steten Kontrast der grünblauen See und dem Azur eines makellosen Sommerhimmels. Immer tiefer führte uns unser Bummel hinaus und immer weiter hinab, bis auf die unteren Etagen dieser meeresnahen Mall, vorbei an ihren prächtigen Fassaden.


An einem Tau im leichten Wind wurden wir über die Felskante hinabgelassen auf das abgründige Untergeschoss. Die Ebbe hatte es soeben für uns freigelegt. Wir seilten uns ab, standen abrupt am Fuße der Steilwand und schauten staunend hinauf auf die trutzigen Mauern dieser übernatürlichen Meeresfestung, vor uns ihre unterspülten Kasematten. Sie verzweigen sich in triefenden Kellern, Gewölben und Grotten, die sommers nach dem Regelwerk der Gezeiten trocken fallen, im Winter aber im tosenden atlantischen Sturmspektakel in furchtbaren Wellenbergen versinken.

Hier an der Schwelle von Land und Wasser liegen unweit die Tore zur Anderswelt. Hier wo die Wassergeister aus dem Meer steigen und wo der Sage nach die Blauen Männer während der Herbststürme die Fischerboote kapern, um sich neue Opfer zu suchen: Menschen, die die Kräfte der Urmutter hochmütig verleugnen und die sich in Selbstüberschätzung auflehnen gegen ihre natürliche Macht. Dies waren ihre Gestade. Überirdisch im Wechsel von Ebbe und Flut, dann wieder versunken in Wellen und Wogen, ein Übergangsort der Elemente, im Kommen und Gehen zwischen Wasser und Land. Zwischen Einst und Jetzt und Immer.


Wir waren hinabgestiegen bis in die Fundamente dieser traumhaften Insel, hinunter in unwägbare Erdgeschichten bis an den Anfang des Holozän, als die Gletscher des nordeuropäischen Festlandeises schmolzen und das gehobelte Karstland des Burren wieder freigaben, als die See anschwoll und das Wasser der für Millennien letzten Eiszeit das Vorland der Aran Islands flutete. Hier liegen Anfang und Ende.

Das sanfte Licht des Spätnachmittags hatte die Welt verzaubert und in berauschende Farben getaucht. Tintenblau wogte das Meer, in weißem Schaum brachen sich die Wellen unter unseren Füßen auf schwarzem, grauem und rotbraunem Fels. Wir mussten uns losreißen und unsere Runde beschließen, bevor die Flut zurückkam. Denn allzu schnell verlieren sich an solchen Orten Zeit und Raum und man muss aufpassen, sich nicht zu vergessen. Jahrzehnte können hier unbemerkt verstreichen.


Die Sonne stand schon merklich tiefer. Wir liefen inzwischen am Wasser entlang, hatten nicht mehr an Höhe gewonnen. Sanft fiel das mächtige Karstplateau seewärts. Denn zum offenen Atlantik hin verliert sich das rissige Gestein, schwindet Lage um Lage um Lage. Die vormals erhabene Felsformation verwandelt sich in eine flache Terrasse, um am äußeren westlichen Ende von Inis Meáin wieder so sanft ins Meer zu gleiten, wie sie zuvor im Osten, am weiten Rund der Galway Bay, der seichten See entstiegen ist.

Wir mussten heim. Teresa wartet bis neun mit dem Dinner. Wir hatten den eingezeichneten Pfad auf ihrer Karte längst verpasst und hoffnungslos verloren. So folgten wir der äußeren Küstenlinie und schlugen den Rückweg gen Osten ein. Schließlich kam das Fort in Sicht und wir erreichten die einwärts führende Straße.


Gleich am Wegesrand lag ein kleiner Pub in der Abendsonne. Fröhliche Menschen saßen im Vorhof beim Bier, wir kamen nicht daran vorbei. Ein rotes, kaltes Smithwicks vom Fass ist Labsal nach einem solchen Marsch und so bestellten wir bald eine zweite Runde. Acht Stunden hatten wir für den „zweistündigen“ Spaziergang gebraucht. Doch es soll zeitverlorene Ausflüge in die Anderswelt geben, die zwei- bis dreihundert Jahre dauern. Die Zeit hier draußen gehorcht eigenen Gesetzen. Und auch irische Pubs scheinen ihnen zu folgen. Wir tranken aus und gingen heim, hoch zum Fort, hinauf zu An Dun. Wie ein Flickenteppich lag das Land im warmen Abendlicht. Die gestaffelten grauen, kantigen Mauern zwischen den endlosen Parzellen warfen lange Schatten, als rollten halbhohe Wellen über eine grüne See. Morgen würden wir nach Inis Mór aufbrechen:

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